100 Jahre eines tschecho-slowakischen Staates: eine stolze Geschichte und eine unrühmliche Gegenwart

Am 28. Oktober 2018 kam es zu einem richtigen Herbsteinbruch – es goss wie aus Eimern, Nebel und eine Kälte, die bis unter die Haut ging. Den Feierlichkeiten anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Gründung der Tschechoslowakischen Republik war das Wetter nicht sonderlich gesonnen. Insgesamt war die Atmosphäre eines so bedeutenden Jubiläums, an das die Tschechen und die Slowaken erinnerten um einiges besser. Nichtsdestotrotz war es für viele nicht nur die Kälte, die vielen Bürgern die Feierlaune verdarb, sondern auch die aktuelle politische Situation.

Statue of Tomas Garrigue Masaryk in Prague

Runde Geburtstage dienen auch als Gelegenheit anzuhalten, nachzudenken und zur gesellschaftlichen Reflexion. Sowohl die Tschechen, als auch die Slowaken nutzten diese Gelegenheit und erinnerten an ihre Staatlichkeit mit einer ganzen Reihe an Dokumentar- und Spielfilmen, Ausstellungen, Veranstaltungen, Diskussionen und Begegnungen. Höhepunkte dieses Marathons waren die pompösen Feierlichkeiten am 28. Oktober in Prag und um einiges bescheidener am 30. Oktober in Martin, in der Slowakei.

Dieser Tag wurde in der Slowakei einmalig zum Feiertag erklärt. In der Regel feiern die Slowaken – anders als die Tschechen – die Gründung der „ersten“ Republik in der Zwischenkriegszeit nicht. Für sie hat dieses historische Datum auch nicht so eine historische Bedeutung wie für die Tschechen. Einer Umfrage aus dem Jahr 2018, durchgeführt von den Instituten für Soziologie der tschechischen und slowakischen Akademien der Wissenschaften, zufolge, befindet sich dieses Datum in seiner Bedeutung für die Zeitgeschichte bei den Slowaken erst an achter Stelle. Bei den Tschechen steht die Gründung der Tschechoslowakei an zweiter Stelle, gleich hinter der samtenen Revolution und dem Fall des kommunistischen Regimes 1989.     

Umso überraschender ist es, dass sich die Politiker beider Länder entschieden haben, die diesjährigen Feierlichkeiten als gemeinsames Projekt zu verstehen und insbesondere die positiven Aspekte des tschechoslowakischen Zusammenlebens? zu betonen. Einer Koexistenz, die sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts nicht unbedingt als einfach zeigte und gleich zweimal (in den Jahren 1939 und 1993) vollständig zerfiel. Der slowakische Präsident Andrej Kiska erklärte, dass er heute „keine zwei Länder auf der Welt kennt, die sich so nahe stehen, wie unsere zwei“, und dass ohne der Entstehung der Tschechoslowakei 1918 beide Republiken ganz andere Richtungen eingeschlagen hätten.

Der slowakische Premierminister Peter Pellegrini betonte in einem Interview für die tschechische Tageszeitung Právo die Gründung eines gemeinsamen Staates nach dem ersten Weltkrieg eindeutig als „bewundernswerte, einmalige, politische, diplomatische und organisatorische Leistung des tschechoslowakischen Widerstandes im Ausland“. Er bezeichnete dieses auch als Ausgangspunkt dafür, dass die Slowaken in den darauf folgenden Jahrzehnten einen modernen Staat mit einem eigenen Schulsystem, einer eigenen Elite und vollwertigen politischen Parteien entwickeln konnten. „Nach fast 100 Jahren können wir zu Recht behaupten, dass die Tschechoslowakei trotz aller historischer Komplikationen ein erfolgreiches Projekt gewesen ist.“ so Pellegrini weiter.

Der tschechische Premierminister Andrej Babiš erinnerte dann in seiner Rede anlässlich der feierlichen Eröffnung des renovierten historischen Gebäudes des Nationalmuseums am Samstag, den 27. Oktober insbesondere an die wirtschaftlichen, industriellen und kulturellen Erfolge der ersten Republik, auf die die Tschechen trotz der Repressionen durch die nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen immer bauen konnten: „Wir sind immer ein Volk fleißiger, intelligenter und kreativer Menschen gewesen (…). Jeder weiteren Generation ist es wieder gelungen, sich auf die Beine zu stellen. (...) „Wir schaffen das! Die Tschechische Republik ist das schönste Land der Welt. Ich denke, dass wir es alle so spüren. Dann soll es auch die ganze Welt sehen.“ So Babiš wörtlich.

 

Man kann jedoch nicht behaupten, dass alle Bürger genauso zufrieden mit dem Zustand der tschechischen Gesellschaft sind wie der Regierungsvorsitzende. Das Gefühl der eher kritisch Gestimmten brachte Ondřej Houska, Kommentator der Tageszeitung Hospodářské noviny, ziemlich genau auf den Punkt. Seinen Worten zufolge sprechen die tschechischen Politiker gerne über die erste Republik, aber gleichzeitig widersprechen ihre Taten dem Ethos dieser Zeit. Den derzeitigen Staatsoberhaupt Miloš Zeman betrachtet Houska als genaues Gegenteil des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. Ihm zufolge bestand seine Einzigartigkeit in der wertvollen Einigkeit von Worten und Taten, er respektierte seine politischen Rivalen und es gelang ihm die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten miteinander zu verbinden.

Im starken Widerspruch mit den moralischen Prinzipien der Gründer eines modernen Staates steht nach Houska auch, das die Regierung vom strafrechtlich verfolgten

Politiker Andrej Babiš geführt wird. Diesen Prinzipien widerspräche auch die Tatsache, dass sich die Tschechische Republik heute weigert, auch nur einen Flüchtling aus den Krisengebieten aufzunehmen und dass ein Teil der politischen Szene dem autoritären Regime in Putins Russland positiv zugeneigt ist.     

In der Tschechischen Republik wurde die feierliche Atmosphäre auch durch die bereits traditionellen Fehden bezüglich der Vergabe der Auszeichnungen durch den Präsidenten gestört. Miloš Zeman nutzt nicht einmal während des 100-jährigen Jubiläums die Gelegenheit über seinen Schatten zu springen und lud keinen seiner öffentlichen Gegner auf die Prager Burg ein,  derweil wurden kontroverse (und ihm nahestehende) Personen ausgezeichnet.

 In der Slowakei bekamen die Feierlichkeiten dieses staatlichen Jubiläums traditionell weniger Aufmerksamkeit, als in Tschechien. Kamila Pešeková beschreibt es für den Tschechischen Rundfunk Český rozhlas Plus so, dass es daran läge, dass das Gefühl verbreitet ist, es handele sich bei der ersten Republik eher um ein tschechisches Projekt und man bei Erwähnungen die Slowakei oft vergisst. Ähnlich sieht das auch der Chefredakteur der slowakischen Zeitschrift .týždeň Štefan Hríb: „In der Slowakei vermeiden wir beim Feiern unser Unabhängigkeit das Wort Tschechoslowakei, also können wir aus dem 28. Oktober keinen Staatsfeiertag machen, obwohl wir, wenn es dieses Datum nicht gäbe, heute noch eine oberungarische Folkloregruppe gewesen wären,“ schrieb er für das Nachrichtenportal aktuálně.cz. Ihm zufolge besteht der Grund darin, dass die heutige slowakische Gesellschaft in sich verschlossen ist und sie habe weder große Ambitionen noch ein Übermaß an Motivation: „Wir sind mit unseren eigenen Komplexen beschäftigt, mit unserer Korruption, unserer Angst vor Flüchtlingen, unseren Kühlschränken und mit unserem Mord.“ ergänzt Hrib im Zusammenhang mit der Ermordung des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová, deren Fall seit dem Frühjahr nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die politische Szene bewegt?

Der 100-jährige Jahrestag der Tschechoslowakei nimmt Hríb gleichzeitig als einmalige Aufforderung auf, darüber nachzudenken, „auf welcher Grundlage von Gedanken, tieferer Gründe und Träume die heutige Slowakei und das heutige Tschechien leben“ und wie man einen Beitrag dazu leisten kann, dass sich die beiden Länder entwickeln und nicht einfach nur überleben.

Auch der bekannte tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomáš Sedláček betrachtet diesen runden Geburtstag als gute Gelegenheit die Geschichte kritisch zu bewerten und aus ihr zu lernen. Er behauptet, dass die Tschechen aufhören sollten, das schwere Erbe des Kommunismus als Ausrede zu benutzen und sich bewusst machen sollten, dass die erste Republik trotz ihrer Fehler eine Insel der Demokratie und des Erfolges in einem Europa der Zwischenkriegszeit gewesen ist und damit für die anderen eine Vorbildfunktion inne hatte.

Sedláček schreibt in seinem Kommentar für die Tageszeitung Hospodářské noviny, dass die Tschechen eben auf dieser Tradition aufbauen und die Verantwortung für ihren Staat wieder in ihre eigenen Hände nehmen sollten.

Die feierlichen Salven sind ausgeklungen, in den Straßen wurden die letzten Reste der Feierlichkeiten und Feuerwerke aufgeräumt. Im Prager November bleibt eine eindeutige und unübersehbare Erinnerung an das hundertjährige Jubiläum übrig -  das neu renovierte Nationalmuseum. Aus dem über Jahrzehnte heruntergekommene und unschöne graue Gebäude entpuppte sich unter dem Gerüst der ursprünglich helle sandsteinfarbige Farbton. Der zentrale Wenzelsplatz, auf dem sich die Tschechen gerne anlässlich von Demonstrationen oder besonderer Jahrestage treffen, bekommt dank des neuen Museums mit einem Mal ein ganz neues, unerwartetes Antlitz. Es bleibt uns nichts anderes, als zu hoffen, dass dies nicht der einzige Beitrag ist, der von den großen und kostspieligen Feierlichkeiten der tschechoslowakischen Staatlichkeit übrig bleibt.

 

Übersetzung:  Bianca Lipanska